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09.02.1998
Cybergramme
Deutschland: Mediokratie
Der politische Diskurs ist gegenüber der vollautomatischen Sprache der Mediengesichter eine quantité négligeable. In unserem politischen Spätbarock gilt: Aussitzen, absitzen, ausschwitzen, da capo! Die Selbstgewißheit der Macht in der Springflut der Bilder hat die Ge-sichtslesekunst aus der Mode gebracht. Das Rededuell zwischen Kanzle-raspirant Schröder und Herausforderer Wulff zeigte den Mini-sterpräsidenten auf der Höhe der politischen Rhetorik. Argu-mente zählen nicht länger, das buddhistische Lächeln über die Verhältnisse hinweg garantiert den Sieg. Zugegeben: Die Schwierigkeit, eine öffentliche Rede zu führen, ohne von der plebiszitären Fernsteuerung in das telekommunikative Abseits befördert zu werden, hat Politiker einem schwer erträglichen Leistungsdruck ausgesetzt. Abwahl quittiert das Wahlvolk den in Ungnade Gefallenen. Im Schamlosigkeitsdreieck von öffentlicher Rede, Ge-sundbeten und Intrigen wetteifern die Großkopferten um die Glau-bensrestposten ihres müden Wahlvolks. Die Sozialdemokraten rüsten nun mit Filmplakaten zur Bundestagswahl 1998: "Vom Wähler verschmäht" - "Denn sie wissen nicht, was sie tun" - "Wem die Stunde schlägt". Der eingescannte Kanzler erscheint auf den alten Technicolor-Plakaten als der untergehende Held des alten Holly-wood-Glamours. Bemerkenswert ist nicht die platte Polemik der Sozialde-mokraten gegen den unsterblichen Kanzler, sondern die Anleihe an die Filmwelt: Politik ist Kino. So real wie irreal entstehen politische Helden als Filmhelden, die bestimmte Tortenstücke des großen Wählerkuchens sichern sollen. Beliebtheitsstatistik ersetzt Struktura-nalyse. So mag etwa "Lovely Rita" intern als weniger lieblich gelten, ent-scheidend ist ihre Wählerakzeptanz. Die Frage, ob die Bündnis 90/Grünen Verbündete des politischen Chaos wären, wird durch Joschkas geläuterten "Realoismus" sekundär. Die Machtstandswahrung der unfreien, weil immer regierungsgebundenen De-mokraten soll durch Jungdynamo Westerwelle kaschiert werden. Jede Partei schickt Hoffnungsträger an die Front. Machiavellisten und Ei-gennützige, Traumtänzer und Troglodyten werden in Demo-kratien als Volkstribunen zum Anfassen verkauft.
von: Goedart Palm
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